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![]() 20.06.2005 | Erste Reaktionen zur Krise ![]() "Europa ist langweilig geworden"
Jürgen Wiedemann (Hotel Barbarossa) sieht ebenfalls "eine gewisse Europamüdigkeit". Wiedemann: "Wenn an Europa gedacht wird, fallen den Europäern vor allem Probleme ein." Das erlebe man am Bodensee ebenso wie in Frankreich und Spanien. Vor allem die Handwerker und Billigkräfte aus den neu hinzu gekommenen Ländern im Osten, die nun ungehindert auf den Markt drängten, sorgten nachhaltig für Verdruss. Trotzdem sei die Krise auszuhalten. "Da ist schon so viel verflochten und zusammengewachsen - diese Entwicklung ist nicht mehr umkehrbar." Jochen Schnell (Globetrotter) reagiert ebenfalls sehr gelassen: "Man verfolgt das. Doch aufregen wird man sich deswegen nicht." Schnell glaubt ebenso wenig wie seine Kollegen, dass sich die Krise weiter wesentlich zuspitzt. Der Wirt aus der Hüetlinstraße schiebt noch einen Scherz hinterher: "Bei mir wird sowieso weniger mit Euro als mit Franken bezahlt; ich hab' so viele Gäste aus der Schweiz, dass Europa keine so große Rolle bei mir spielt." Aynur, Konstanzerin mit türkischen Eltern, ist gerade dabei, im Theatercafé aufzuräumen. "Brüssel ist mir viel zu weit weg", sagte Aynur, "und wahrscheinlich habe manchmal nicht nur ich das Gefühl, dass wir für die in Brüssel noch weiter weg sind". Zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Europa-Krise fügen wir einen Kommentar an, der in der heutigen Monatgausgabe der "Süddeutschen Zeitung" erscheint.
Man darf Europa in diesem Zustand nicht allein lassen: Auf der Probe steht der wichtigste Exportartikel Europas - die Demokratie, ihre Fähigkeit, wirtschaftliche Umbrüche solidarisch zu bewältigen. Ein Kommentar von Cornelia Bolesch Was sich auf diesem Gipfel ereignet hat, war der Nervenzusammenbruch eines überforderten politischen Systems. Erschöpfte Männer sprachen nach stundenlangen ergebnislosen Sitzungen von "Scham", "Traurigkeit" und "Entmutigung". Sie wollten Europa den Weg aus der Krise weisen. Stattdessen haben sie die Europäische Union noch weiter in die Krise getrieben. Der Haushalt spielte in ihrem zähen Ringen nur vordergründig eine Rolle. In Wahrheit vergiftet ein politischer Richtungskampf die Atmosphäre. Hinter dem Feilschen um Schecks und Rabatte steht die Grundsatz-Frage, ob die Europäische Union als dynamischer Markt oder als politische Wertegemeinschaft ihren Platz in der Globalisierung behauptet. Nichts hat die Dramatik dieses Konflikts so bloßgelegt wie das nächtliche Notopfer der armen Mitgliedstaaten aus dem Osten. Ausgerechnet sie waren bereit, zum Wohle Europas zugunsten der reichen Staaten auf finanzielle Zuwendungen zu verzichten. Selbst diese Geste der Solidarität hat nichts genützt. Mit dem Mut der Verzweiflung bleibt einem jetzt nichts anderes übrig, als der EU zu diesem Scheitern zu gratulieren. Wenigstens eine Schwäche des alten Kontinents ist endlich beseitigt: die Realitätsverdrängung. Nach diesem Unglücksgipfel lässt sich der wahre Zustand des europäischen Staatenverbunds nicht mehr verbergen. Lang aufgestaute Konflikte sind aufgebrochen. Dem diffusen Protest verunsicherter Bürger in den Referenden folgte das hemmungslose Hauen und Stechen auf höchster politischer Ebene. EU-Gipfel waren selten Orte der Harmonie. Die "europäische Familie" hat sich immer auch nationale Prestigekämpfe geliefert. Doch in der Vergangenheit setzte sich in den Nächten der langen Messer letztlich immer wieder die Methode des Gebens und Nehmens durch und brachte die EU schrittweise nach vorne. Diesmal hat es nicht funktioniert. Stattdessen hat sich in den politischen Organismus der EU wie ein tückisches Virus ein neuer Stil eingeschlichen: Einer war dabei, der von Anfang an kein Ergebnis wollte. Kühl ließ er den Gipfel scheitern. Ausgerechnet er wird in Kürze als Präsident antreten und dieser tief verunsicherten Union "dienen" müssen. Der britische Premier Tony Blair hat, oberflächlich gesehen, wie ein Held gekämpft: für ein "modernes Europa", gegen einen "Etat von gestern", für die Reduzierung der üppigen Agrarsubventionen. Doch seine Argumente waren hohl. Es ist einfach nicht glaubwürdig, wenn er gleichsam über Nacht Bauerngelder dramatisch kappen will, deren Festschreibung bis 2013 er vor einem knappen Jahr noch selbst unterschrieben hat, und wenn er verschweigt, dass sich die Landwirtschaft nur deshalb so breit macht im EU-Etat, weil sie der einzige Posten ist, der ausschließlich mit europäischen Geldern finanziert wird. Die Forderung nach einem modernen Haushalt für die Europäische Union bleibt dennoch richtig. Luxemburgs EU-Präsident Jean-Claude Juncker wollte eine Reform einleiten. Blair hat diese Brücke nicht betreten. Er wirkte in Brüssel wie programmiert auf den Eklat. Und fixiert auf die eigene Marktideologie. Mit dieser Arroganz hat der Labour-Führer auch diejenigen verschreckt, die sich von der bevorstehenden EU-Präsidentschaft der Briten einiges erhofft hatten. Die Wirtschaft in Großbritannien pulsiert. Der Staat schafft dort im Augenblick mehr Jobs als der verkrustete Protektionismus in Frankreich. Aber Blairs Rezepte kranken daran, dass sie von Europa vor allem die rasante Anpassung an die Regeln des Weltmarktes fordern. Sie lassen jeden Ehrgeiz vermissen, aus Europa ein politisches Modell zu machen, das der Welt ein Beispiel gibt. Soll es etwa Europas Zukunft sein, immer nur "schneller", "besser" und "mobiler" sein zu müssen als alle anderen auf der Welt? Wer mag ständig unter einer solchen Peitsche leben? Nur eine politische Vision, in der auch Solidarität und Sicherheit ihren Platz haben, wird die Menschen für Europa begeistern. Europas Krise geht tief. Hier ächzen nicht nur veraltete Wirtschaftsstrukturen unter dem Druck der Globalisierung. Es geht um viel mehr. Auf der Probe steht der wichtigste Exportartikel Europas: die Demokratie, ihre Fähigkeit, wirtschaftliche Umbrüche solidarisch zu bewältigen. Die Demokratie ist die einzige Gesellschaftsform, die Konflikte friedlich ausgleicht und den Menschen hilft, Meister ihres Lebens zu bleiben und nicht zu Getriebenen anonymer Mächte zu werden. In der Praxis aber zeigt sich Europas demokratischer Raum in schlechter Verfassung. Die politischen Eliten sind ausgelaugt. Sie haben weder den Mut noch die Kraft zur Führung. Es steht zu befürchten, dass sie sich auch in Zukunft nur Schaukämpfe liefern. Ab sofort ist Politikverdrossenheit ein Luxus, den sich die Bürger nicht mehr leisten sollten. Wenn sie sich nicht machtvoll einmischen in den Richtungsstreit um Europas Zukunft, werden viele Errungenschaften einfach wegbrechen, die unsere Demokratie für Milliarden von Menschen außerhalb der EU-Grenzen als reines Paradies erscheinen lassen. Jean-Claude Juncker hat Recht: Man darf Europa in diesem Zustand nicht allein lassen. (Süddeutsche Zeitung vom 20.6.2005) |
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