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14. August 2017 | Blick in die Lombardei und nach Palermo

Die vielen Gesichter Italiens

Konstanz/Lodi/Palermo (gro) Italien will neuerdings seine Häfen sperren für Schiffe nichtstaatlicher Hilfsorganisationen, die ihre aufgesammelten Flüchtlinge bitteschön anderswo ausladen sollen. Auf der anderen Seite sieht man Leoluca Orlando (Bildmitte) wie er, vor wenigen Wochen zum fünften Mal zum Bürgermeister von Palermo gewählt, in den Hafen der sizilianischen Metropole eilt, um als erste Amtshandlung nach seiner erneuten Wiederwahl die Begrüssung von 528 Flüchtlingen zu übernehmen, die von der italienischen Marine aus dem afrikanischen Meer vor Libyen gerettet worden sind.

Was ist typisch italienisch?

Es ist verständlich, dass in Konstanz am Bodensee, einer Grenzstadt, in der sich Hunderte freiwillig in der Flüchtlingshilfe engagieren, Widerwillen aufkommt, wenn Italien seine Häfen für organisierte Flüchtlingsretter teilweise dicht macht. Und dann auch noch eine neue Bürgermeisterin in der Partnerstadt Lodi, die zur „fremdenfeindlichen Lega Nord“ gehört! Die Linke Liste Konstanz (LLK) hat die Stadtverwaltung zwei Wochen nach diesem Votum Anfang Juni aufgefordert, Lodi wissen zu lassen, dass durch die Wahl von Sara Casanova die „Städtepartnerschaft beschädigt wird“. Was ist los in Italien und in der lombardischen Partnerstadt? Gibt’s einen neuen Rechtsruck? Oder verkörpert doch eher Leoluca Orlando das wahre Italien?

Claus Dieter Hirt rückt vieles zurecht

Glücklicherweise (und fairerweise!) bekam Claus-Dieser Hirt, der für die Städtepartnerschaften zuständige Mann im Konstanzer Rathaus, die Möglichkeit, das Bild eines angeblich rechtpopulistischen lodigianischen Kommunalregimes zurecht zu rücken und der Linken Liste die Besonderheit der italienischen Politikverhältnisse näher zu bringen. (Nachzulesen im „seemoz“-Beitrag vom 4. Juli.) So vergass Claus-Dieter Hirt auch nicht zu erwähnen, dass mit Alberto Segalini schon einmal ein Mitglied der Lega Nord Stadtoberhaupt von Lodi war. Der angesehene Arzt ist ein überzeugter Europäer. Kaum ein Bürgermeister habe während seiner Amtszeit für die Partnerschaft mit Konstanz so viel getan wie Segalini, und das, obwohl er nur gut zwei Jahre (von Ende 1993 bis Ende 1995) an der Spitze der Stadt Lodi stand. Im Übrigen, auch darauf wies Claus-Dieter Hirt hin, seien es weniger die Behörden oder Parteien und deren Repräsentanten als vielmehr die Bürgerinnen und Bürger, Verbände und Vereine, die eine Städtepartnerschaft mit Leben erfüllen.

Ziel war die Abspaltung Norditaliens

Die Lega Nord entstand in den achtziger Jahren aus der Lega Lombarda. Politisches Ziel war die Abspaltung Norditaliens von den „unterentwickelten und mafiaverseuchten“ Regionen der südlichen Landesteile. Die politische Zurückweisung galt nicht Ausländern, sondern den „Terroni“ des einheimischen Südens, die die hart erarbeiteten Steuermittel der fleissigen Norditaliener „auffressen“. Später gesellte sich zu den politischen Zielen auch ein neues Steuersystem und eine Dezentralisierung des Landes: Der Bund (Rom) sollte den Regionen, vergleichbar mit den Bundesländern in Deutschland, mehr Rechte und mehr Selbständigkeit geben.

Keine gewalttätigen Übergriffe

Die fraglos rechtspopulistische Lega Nord benimmt sich immer wieder auch fremdenfeindlich. Aber ganz im Gegensatz etwa zu Deutschland werden in Italien kaum gewalttätige Übergriffe gegenüber Ausländern oder gar Brandstiftungen zum Schaden von Ausländerunterkünften verzeichnet. Dabei sind selbst in Städten des Nordens manche Viertel so „schwarz“, dass man meinen könnte, man habe sich in eine kleine afrikanische Kolonie verirrt. Die grossen, traditionsreichen Märkte des Südens, vor allem in Neapel und Palermo, wären längst dezimiert, wenn die mühseligen Marktgeschäfte nicht von Zehntausenden von Pakistani und Familien aus Bangladesh übernommen worden wären. Und in jeder grösseren Stadt gibt ein veritables Chinatown.

Toleranz und Hilfsbereitschaft in den Genen

Diese Buntheit ist anziehend. Entstehen konnte sie in erster Linie dadurch, dass Toleranz und jenes „Leben und Leben lassen“, und auch eine immerwährende Hilfsbereitschaft, den Italienern des Südens sozusagen im Blut liegt, was auch aus dem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber jeder Obrigkeit herrührt. 3000 Jahre immer wieder wechselnde Herren und Hochkulturen, Phönizier, Griechen, Elymer, die ihr neues Troja suchten, Römer, die die Insel zur Kornkammer ihres Riesenreichs machten, Byzantiner, Normannen, der Staufer Friedrich II., das Haus Anjou, die Aragonesen und schliesslich der spanische Zweig der Bourbonen –sie alle haben sich teilweise ins Volk hineingemischt, haben Spuren hinterlassen, die man, vor allem auf Sizilien, bis heute spüren, besichtigen, berühren und schmecken kann.

Die Küste ist 7500 Kilometer lang

Es ist jedenfalls kein Wunder, dass viele Flüchtlinge in Italien hängen bleiben. Auch wegen des milden Klimas. Die Dunkelziffer der untergetauchten “Sanspapiers” oder “Clandestini” ist extrem hoch. Da werden auch in Zukunft noch so viele „Hotspots“ nicht viel ändern können. Auf ein paar hunderttausend Flüchtlinge kommt’s da nicht mehr an. Italien schafft das. Oder vielmehr: Die Italienerinnen und Italiener schaffen das. Ungehalten ist man in dem Land mit seiner 7500 Kilometer langen Küste (von Paris nach New York sind es per Luftlinie nur etwa 3800 Kilometer) zunehmend vor allem darüber, dass die Europäische Union das Land Italien seit über 20 Jahren mit dem Flüchtlingsproblem mehr oder weniger alleine lässt.




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