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9. Oktober 2018 | Zur letzten Ruhe mit Erde aus Jerusalem

Mutter Nissenbaum bleibt keine Sekunde allein

Konstanz (gro) Die beiden Söhne und die Tochter, die Enkel, weitere Anverwandte und auch Freunde, sie alle haben Wache gehalten seit bald 48 Stunden. Sonja Nissenbaum, die Mutter der Familie, wird keine Sekunde allein gewesen sein, wenn sie heute auf dem Jüdischen Friedhof beerdigt wird. Mit etwas Erde aus dem Heiligen Land, aus Jerusalem, wird es ihr in ihrer letzten irdischen Ruhestätte bequem gemacht. Es ist gleichzeitig ein Willkommensgruss. Sonja Nissenbaum, die Frau mit dem grossen Herzen, war am Ende ihres Erdendaseins froh, endlich gehen zu dürfen. Sie wollte endlich wieder ganz bei ihrem Shimon sein, der ihr vor gut 17 Jahren voran gegangen war. Die Prozession, mit der ihre sterblichen Überreste heute von der Sigismundstrasse durch die Stadt bis zum Gottesacker gebracht werden, wird denn auch weniger einem Trauergeleit ähneln als vielmehr einem Triumphzug.

Seit 18 Jahren Präsidentin der Nissenbaum-Stiftung

Mit Sonja Nissenbaum verliert die 1983 gegründete Familienstiftung ihre Präsidentin. Sie hatte die Präsidentschaft nach dem Tod ihres Mannes übernommen, der 2001 aus dem Leben gerissen wurde - und sie hatte dieses Ehrenamt 18 Jahre lang mit Engagement und Opferbereitschaft ausgefüllt. Fast genau so lange wie zuvor ihr Mann Shimon Nissenbaum, der Gründer und langjährige Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde Konstanz. Sonja Nissenbaum hatte zuletzt ein erneutes Grossprojekt in Angriff genommen: Die Erweiterung der Gedenkstätte im ehemaligen Vernichtungslager Treblinka, wo fast die ganze Familie ihres Mannes von den Nationalsozialisten umgebracht worden war. Doch nicht das war der Grund ihres Vorhabens, sondern die erst vor kurzer Zeit gefestigte Erkenntnis, dass im Bereich des Lagers Treblinka die Überreste von etwa 1 Milliion Menschen, hauptsächlich Menschen jüdischen Glaubens, aber auch so genannte „Zigeuner“, Sinti und Roma, aus ganz Europa in anonymen Massengräbern verscharrt worden sind. Das Projekt ist jedoch gerettet: Gideon und Benjamin Nissenbaum, das wurde der Mutter versprochen und ist damit beschlossen, werden den ehrgeizigen Plan verwirklichen.

Stets an der Seite ihres Shimon

Familienvater Nissenbaum, der den Holocaust überlebt hatte, aber Zeit seines Lebens mit einer unmenschlichen Erinnerung leben musste, war Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht vor versprengten Einheiten des nationalsozialistischen Regimes in Konstanz gestrandet. Der Sohn eines Warschauer Bauunternehmers (der von Schergen der nationalsozialistischen Machthaber kurz vor Kriegsende erschlagen wurde), baute sich aus dem Nichts mit Hilfe von einigen wenigen Konstanzer Freunden eine Existenz auf, die ihn in weniger als drei Jahrzehnten zu einem angesehenen Kaufmann und Unternehmer machte. Shimon Nissenbaums massgebliches Werk war die Gründung der Familienstiftung. Die 1983 ins Leben gerufene Institution hat ihren Sitz in Warschau, früher inmitten des historischen Zentrums, im (unzerstörbaren) Turm des früheren Fernmeldeamts , heute in einem moderneren Gebäude. Und immer hatte Shimon seine Sonja an der Seite.

Retter des jüdischen Erbes in Europa

Shimon Nissenbaum mit seiner Frau Sonja bei Lech Walesa, die beiden am Eingangstor des wieder zum Leben gebrachten jüdischen Friedhofs im Warschauer Stadtteil Bródno, Shimon und Sonja in Washington bei George Bush, mit Gorbatschow, mit Edward Kennedy und bei zahlreichen Eröffnungen neu geretteter jüdischer Kulturzentren: Nissenbaum ist Ungeheueres gelungen. Nicht nur, dass er Hunderte von Friedhöfen in Polen, einige auch in Russland und in den baltischen Staaten mit Hunderttausenden von Gräbern vor dem Verschwinden bewahrte: Er schaffte es, das jüdische Erbe Europas, das Judentum mit all seinen kulturellen Ausprägungen zurückzuerobern. Doch ohne seine Frau Sonja hätte er das kaum geschafft.

Grosses Herz und Gute Seele

Ohne Entschlossenheit und ausgeprägten Geschäftssinn hätte Shimon Nissenbaum seine ehrgeizigen Pläne nicht verwirklichen können. Und ohne ein wirksames Korrektiv wäre er dabei, leidenschaftlich wie er war, vermutlich gescheitert. Doch da war eine geradezu wundersam sanfte Kraft an seiner Seite: seine Sonja. Die gebürtige Mannheimerin, die als Kind nach Konstanz kam, wäre kommenden Monat 89 geworden, und niemand hätte es überrascht, wenn sie etwas später 100 Jahre alt geworden wäre. Denn sie, die eigentlich ans Theater wollte und kurz nach Kriegsende ein Engagement in Berlin in Aussicht hatte, blieb bis ins Alter doch recht sportlich, blieb aber ihrem Shimon zuliebe am Bodensee – auch deshalb, weil sie von Anfang an wusste, dass sie mit ihrem Shimon, der sich einst schon in den Warschauer Ghetto-Aufstand geworfen hatte, die ganze Welt erleben würde. So kam es auch. Und dazu wurde Sonja Nissenbaum First Lady und Mutter der jüdischen Gemeinde, die stets mit Umsicht und stilsicherem Geschmack Jahrzehnte lang fürs Wohl ihrer Schutzbefohlenen sorgte.

Aus New York, dem frommen Benei Berak und aus Tel Aviv

Zum Triumphzug Richtung Gottesacker kommen nicht nur Freunde und Verwandte zusammen. Sonja Nissenbaum wird vom Himmel her auch miterleben, wie sich zahlreiche „unbekannte“ Konstanzerinnen und Konstanzer zu den Feierlichkeiten einfinden werden. Denn sie war auch eine wirkmächtige Wohltäterin (die allerdings ohne jedes Aufsehen half und spendete). Freuen kann sich Sonja Nissenbaum auch über die Freunde aus Warschau, über die frommern Gäste aus Benei Berak und aus Tel Aviv, und über die mitfeiernden Verwandten und Freunde aus London, New York und Jerusalem.



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