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20. Mai 2023 | Zum Beispiel Palermo – oder das andere Italien

Mit einem Büro in Tijuana

Konstanz (gro) Zivilcourage und Bürgersinn sind die neuen Exportartikel Siziliens, der südlichsten Region Italiens. Ihr Aushängeschild ist Leoluca Orlando, der ehemalige Bürgermeister von Palermo, der Hauptstadt dieser europäischen Südregion. Mit “grosser Sorge” verfolgt man dort die Hochwasserkatastrophe im Norden des Landes. Als Botschafter seiner immer noch als Mafia-Land verrufenen Heimat Sizilien lässt Orlando die Welt teilhaben an seinen Erfahrungen im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und die Korruption des öffentlichen und privaten Lebens. Der Konstanzer Stefanssaal war einst brechend voll, als Leoluca Orlando zum Thema “Macht und Moral” vom „Sizilianischen Karren“ erzählte, den er nicht müde wird, weiter aus dem Dreck zu ziehen.

Gute Ãœberlebenschancen

Professor Georg Lind, der viel zu früh verstorbene Konstanzer Professor für Experimentalpsychologie, der Orlando ausgerechnet auf einem Parkplatz in Bogotá, dem Autoabstellplatz der Uni, eher zufällig kennen gelernt und später nach Konstanz eingeladen hatte, räumte ein, er habe sich verschätzt. Lind war ebenso verblüfft wie erfreut über das ungeheure Interesse, das vor allem die Konstanzer Jugend dem Mann entgegen brachte, der damals schon seit über 20 Jahren auf der Abschussliste der Cosa Nostra stand. Orlando hatte allerdings, wie er selber fand, gute Aussichten zu überleben. Nicht deswegen, weil die Mafia verschwunden wäre, sondern weil sie sich nicht traute, ihn zu erledigen: Viel zu beliebt, viel zu respektiert sei dieser Mann. So lange das so bleibt, ist Orlando einigermaßen sicher. Sein Tod brächte der Mafia wesentlich mehr Nachteile als Nutzen.

Stützpunkte in Übersee

Seit 1999 bringen Orlando und seine Mitstreiter Erkenntnisse und Erfahrungen beim Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen weltweit unter die Leute, mit Symposien, Seminaren und Publikationen und zwar durch die Stiftung „Rinascimento Siciliano“ (”The Sicilian Renaissance Institute“). Hauptsitz des gemeinnützigen Unternehmens unter der Präsidentschaft Orlandos ist Palermo, dazu gibt es mehrere Stützpunkte in Ãœbersee; auch in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana hat Leoluca Orlando ein Büro.

Die wunderschöne Sizilianerin hat Orlando geheiratet

Orlando erzählt gerne von seiner Jugend, von seiner Schulzeit bei den Jesuiten in Palermo, wo „in 13 Jahren nicht ein einziges Mal das Wort Mafia fiel“; erzählt davon, wie er gegen das Schweigen aufmuckte und schießlich zum todesmutigen Bekämpfer des Systems namens Cosa Nostra wurde. „Eine wunderschöne Sizilianerin“ habe den Anstoß dazu gegeben, eine junge Frau, die ihm ihre „zweite wichtige Frage“ gestellt habe: „…und was unternimmst du gegen die Mafia?“ Orlando hat die Frage überzeugend beantwortet: Die Sizilianerin ist seine Frau geworden.

Tugenden werden pervertiert

Die Mafia, sagt Orlando, pervertiere “an sich segensreiche Errungenschaften” und Haltungen wie Stolz, Freundschaft, Traditionsbewusstsein oder Mut, indem sie diese Tugenden für ihre Zwecke gewalttätig missbrauche. Weil sich die Wertvorstellungen geändert hätten, habe sich auch die Mafia geändert. Inzwischen verfolge die Mafia ihre Interessen, indem sie Erstrebenswertes wie Freiheit, Sicherheit oder Reichtum usurpiere. Und noch eine Änderung habe stattgefunden: „Die alte Mafia war sizilianisch, die neue Mafia ist europäisch, zum Teil weltweit organisiert.“

Wer gegen organisiertes Verbrechen und Korruption angehen will, muss laut Orlando “extreme Haltungen vermeiden”. Perfekte Legalität gebe es gar nicht; perfekte Legalität arte zudem letzten Endes zwangsläufig aus in Repression. Zu vermeiden sei ferner das Klischee: die kritiklos vorgefasste Meinung. Und unbedingt nötig sei der persönliche Mut, die Zivilcourage und das Einstehen für seine Ãœberzeugung.

Brutale Konsequenzen

Orlando steht mit solchen Ansichten und Forderungen in der besten Tradition humanistischer und christlicher Tugenden. Hochinteressant wird die Angelegenheit, wenn Orlando, wie im Anschluss an seine Vorträge oft geschehen, davon berichtet, wie das in der Praxis aussehen kann. So zum Beispiel in Sachen Cesare Previti, einem Freund und Anwalt Silvio Berlusconis, in dem viele einen besonders bösen Geist vergangener Römer Regierungen sehen.

Orlando hatte sich wiederholt mit Previti angelegt und ihn wegen seiner schweren Verfehlungen als “eine Schande für Italien” bezeichnet. Previti klagte gegen Orlando - und obsiegte, flankiert von einer Schar regierungskonformer Kollegen Previtis. Orlando wurde zu 200.000 Euro Schadensersatz verurteilt. Seither stottert der ehemalige Bürgermeister von Palermo monatlich 1681 Euro an Previti ab, eine Summe, die sein Gehalt unters Existenzminimum drückt. Einer Pfändung entging Orlando nur deswegen, weil ihm kaum etwas gehört. Haus und Vermögen sind im Eigentum seiner Frau und seiner beiden Töchter.

Auf alle Fälle frei sein

Orlando hätte den Prozess mit dem Hinweis auf seine Immunität als nationaler Abgeordneter und als Europa-Abgeordneter ohne weiteres abwenden können. Doch er „wollte und konnte das nicht“. Orlando: „Schließlich trete ich mit Nachdruck dafür ein, die Immunität von Abgeordneten abzuschaffen.“ Da zahlt er lieber und bleibt „absolut frei, meine Überzeugung in aller Deutlichkeit zu vertreten“.

Die Verbrechen liegen auf der Hand

Previti einen Verbrecher zu nennen, liegt auf der Hand. Der ehemalige Verteidigungsminister und Intimus von Regierungschef Silvio Berlusconi ist bereits zweimal wegen Richterbestechung verurteilt worden, zuletzt im Mailänder Berufungsprozess, in dem das Urteil der ersten Instanz aus dem Jahre 2003 bestätigt wurde: Fünf Jahre Haft für die Bestechung von Richtern. Jetzt liegt der Fall beim römischen Kassationsgericht. Wegen eines weiteren Bestechungsskandals war Previti bereits zu 14 Jahren Haft verknackt worden. Auch dagegen läuft ein Berufungsverfahren, begleitet von einer Heerschar von Anwälten aus dem Umfeld von Berlusconi und Matteo Salvini.

Vergebliche Bemühungen

Die Taten liegen zum Teil Jahrzehnte zurück, so gut ist es Previti gelungen, die Verfahren in die Länge zu ziehen. Wie sehr Previti und seine mächtigen Freunde eine Verurteilung fürchten, bewiesen die Bemühungen der bis zur Ära Dragi amtierenden Mitte-Rechts-Regierung, die unbedingt ein Gesetz durchbringen wollte, das die Verjährungsfrist für Korruptionsdelikte drastisch verkürzt. Doch da machten die Koalitionspartner Silvio Berlusconis nicht mehr ganz mit. Sie bestanden auf der Streichung bestimmter Passagen, sodass sich die Neuregelung nicht auf bereits begonnene Verfahren auswirkt. Previti kann also nicht von der neuesten Regelung profitieren.

Die Kraft der Liebenswürdigkeit

Zu Mut und Konsequenz kommt bei Orlando jede Menge Kreativität, nachzuempfinden in seinen Erzählungen, die in dem Buch „Der sizilianische Karren“ zusammengefasst sind. Hans Helmut Straub vom Theater Konstanz, der das Zeitliche ebenso wie Georg Lind viel zu früh gesegnet hat, lockerte seinerzeit den Vortrag Orlandos im Stephanshaus mit Kostproben aus dessen neuestem Buch auf - und gab damit den sizilianischen Geschichten das Leben, das sie verdienen. Was sie am stärksten vermitteln, ist ein ungebrochener Optimismus, gepaart mit stolzer Freude an Sizilien und der sicilianitá.

Orlando, der direkt aus Palermo kam, im „Barbarossa“ übernachtete und am Tag darauf schon wieder in Palermo zu einem Vorstandstreffen seiner Partei erwartet wurde, wirkte zeitweise erschöpft, niemals aber resigniert oder gar fatalistisch. Ungebrochen ist sein Charme. Gegen die Liebenswürdigkeit Leoluca Orlandos ist eben tatsächlich kein noch so mafiöses Kraut gewachsen.

(Siehe auch den Beitrag „Der Mann, der Palermo veränderte“ vom 10.01.2006.)



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Ein Kommentar

  1. 1. Matthias Bonitz

    Ich habe allerhöchste Hochachtung vor dem Mut und dem Lebenswerk dieses großen sizilianischen Europäers. Man sollte ihm auf vielen Gebieten ein Denkmal setzen.

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